Befindet man sich auf einem zu klein geratenen Plastik-Stühlchen an einem zu klein geratenen Plastik-Tischchen vor einem umso grösser wirkenden Glas «bia» (sprich: «Bier» – und genauso schmeckt es), ist man wahrscheinlich in Ha Noi.
In den Altstadtgassen ist es eng – doch längst habe ich mich an die vielen Menschen und Transportmittel gewöhnt. Bei meiner Ankunft in Ho Chi Minh City (oder Saigon) hat mich der Gedanke, eine achtspurige Strasse zu überqueren, die 16-spurig genutzt wird, noch beunruhigt. Jetzt, drei Wochen später und 2000 Kilometer erfahrungsreicher, hüpfe ich in Ha Nois Altstadt zwischen freien Flecken auf dem Trottoir und der viel befahrenen Strasse vorwärts, wie auf Steinen über einen Fluss. Und ich liebe es: die Waren der Geschäfte bis zum äussersten Rand des Bordsteins ausgebreitet, das geschäftige Treiben überall. Ich kaufe mir frische Water Chestnut, setze mich an den Hoan-Kiem-See, wo die sagenhafte goldene Schildkröte gelebt haben soll – und lasse meine Vietnam-Reise Revue passieren. Geblieben sind Szenen und Bilder wie aus einem Traum.
Ich kam ohne Vorstellungen, im Gepäck ein Rundreiseticket, und ich wollte herausfinden, was es mit diesem Land auf sich hat – mich überraschen lassen. Ich wurde Zeuge, wie es im Bergort Sapa an der chinesischen Grenze schneite – Schnee auf Palmen, auf Reisterrassen! – und sah die strahlenden Gesichter der aufgeregten Einheimischen.
Ich habe im Mekong Delta zwischen Palmen noch warme Coconut Candies gekostet, Ananas mit Salz gegessen (fein!) und die dramatisch wie eine Flamme geformte Dragon Fruit probiert (schmeckt weniger spektakulär als sie aussieht). Ich habe mich durch diverse «Pho»-Variationen geschlürft, das vietnamesische Nationalsüppchen als Street Food und in einer gestylten Restaurant-Kette mit Kundentreuekarte genossen. Ich stand vor Türmen von Opfergaben inmitten von Räucherstäbchenschwaden, habe dicke und dünne, glückliche und nachdenkliche Buddhas gesehen. Ich reiste mit dem Bus, dem Boot, dem Zug und den «Vietnam Airlines». Ich liess mich von einem «Easy Rider» durch die Landschaft um Da Lat kurven und auf einem Cyclo quer durch ganze Städte radeln. Ich habe gesehen, wie Kommunismus auf T-Shirts verkauft wird und mir in Hoi An Flipflops massschneidern lassen; habe mir den Bauch vollgeschlagen und dafür so viel bezahlt wie in der Schweiz für einen Kaffee; ich habe gelacht, gestaunt und mich gewundert – überflutet von Eindrücken, die jetzt in meinem Kopf ablaufen wie eine Dia-Show auf fast forward.
Und dann gab es die Zeitlupen-Momente – zum Beispiel auf der Wiese vor Ho Chi Minhs monumentalem Mausoleum im Abenddunst der Stadt: Arbeiterinnen mit tief ins Gesicht gezogenen Reishüten jäten geschäftig das Tropengras. Ich schaue ihnen zu – eine blickt plötzlich auf und schenkt mir ein warmes Lächeln. Der unerwartete Verlust meiner Anonymität verwirrt mich, ich brauche eine Sekunde, bis ich schüchtern zurücklächle und einen Lidschlag lang bleibt die Welt um mich stehen. Jetzt sitze ich hier am See, esse Water Chestnut und spüre, warum es die Reisenden aus aller Welt nach Vietnam zieht – ohne es ganz in Worte fassen zu können.
Dieser Artikel erschien im Original in der Kuoni-Publikation "Ich war noch niemals in…"
Fotos: DER Touristik Suisse AG