Ein schrilles Lachen reisst mich aus dem letzten Traum dieser Nacht. Weiteres hysterisches Gelächter stimmt ins erste Lachen ein und ich sehe gerade noch, wie eine Gruppe Möwen an meinem offenen Fenster vorbeifliegt. Das Meer ist nah und seine Boten kreisen jeden Morgen über den Schieferdächern der Altstadt Quimpers – oder auf bretonisch Kemper. Ich trete ans offene Fenster – stolz strecken sich die beiden spitzen Türme der gotischen Kathedrale im Morgenlicht. Die frische Morgenluft lässt auf meinen Armen Gänsehaut entstehen und mich daran erinnert, dass man am Ende der Welt auch während der Sommermonate morgens und abends mit einer kühlen Briese rechnen muss. Ich schliesse das Fenster und wecke meinen Besuch aus der Schweiz auf, damit wir uns auf den Weg ans Meer machen können.
Als wir auf die Strasse treten, sehen wir einen Trupp Männer in gelben Gilets die Strasse säubern und letzte Barrieren auf einen Lastwagen hieven. Am Vortag endete der jährliche grösste kulturelle Anlass der Region – «Le Cornouaille Quimper» – das Festival de la Cornouaille (la Cornouaille umfasst eine historisch begründete, politische und religiöse Region des Departements Finistère). Am Fusse der eindrücklichen Kathedrale St. Corentin in der Altstadt Quimpers werden während neun Tagen und neun Nächten alte bretonische Bräuche, Instrumente und Gewänder in die Gegenwart geholt. Seinen Ursprung hat das Festival 1922, als Louis Le Bourhis zur Einweihung seines Kinos in Quimper die schönsten Mädchen «les Reines» der Nachbarstädte einlud und diese vom Bahnhof zu seinem Kino marschieren liess. Das grosse Echo des Anlasses liess ihn mit Unterstützung der bedeutenden quimperoisischen Kaufmänner «la fête des Reines» gründen und so wird seit 1923 jedes Jahr die Königin von Cornouaille gekrönt. Der Höhepunkt des Fests findet am Sonntagnachmittag statt, wenn über 1000 Tänzer und Tänzerinnen und Musizierende, in historische Trachten gekleidet und in allen erdenklichen Farben leuchtend, entlang der Odet defilieren.
Unser erstes Ziel ist Audierne – bretonisch Gwaien. Im einst bedeutenden Fischereihafen liegen heute prächtige Segelboote und mehrstöckige Yachten. Ich fahre mit meinen Gästen durch das malerische Städtchen, an dessen Quais einige Restaurants, Boutiquen und Souvenirläden zum Flanieren einladen. Am nördlichen Ende Audiernes liegt ein oft windstiller, weisser Sandstrand. Wir breiten unsere Strandtücher aus, tanken ein wenig Sonne und wagen einen Sprung ins sehr erfrischende – oder laut meinen nicht an bretonische Verhältnisse gewöhnten Freundinnen eiskalte – Nass. Irgendwann treibt uns der Hunger zurück ins Städtchen, und der Duft der Galette – der typisch bretonischen, salzigen Crêpes aus schwarzem Mehl, klassisch gefüllt mit Ei, Käse und Schinken oder extravaganter mit Ziegenkäse und Honig – in eine am Hafen gelegene Crèperie. Während wir den dünnen, knusprigen Teig der Galette auf der Zunge zergehen lassen, diskutieren wir bereits, welche süsse Crêpe als Dessert folgen wird.
Wir setzen unsere Fahrt fort. Ein gelbes Schild weist zur« la route du vent solaire», dem idyllischen Weg entlang der Küste. Wir folgen den gewundenen Strässchen durch verschlafene Weiler, über sanfte Hügel, entlang von goldigen Kornfeldern, deren Ränder von wildem Mohn gesäumt sind. Kleine rote Farbkleckse, als hätte ein Maler der Landschaft einige rote Tupfer verpasst. Nach jeder Kurve, jedem Hügel wird ein neues Landschaftsdia in unser Blickfeld geschoben. Im Norden dominieren steile Klippen, im Süden schon fast tropisch wirkende Moorlandschaften sowie Mais- und Sojafelder. Ich erzähle meinen Freundinnen auch vom Frühling, von den Tulpenfeldern, die in allen erdenklichen Farben leuchten. Und vom Herbst, wenn die Bäume wie rote Fackeln zwischen den Feldern stehen. Kirchen und Kapellen harren moosüberwachsen und umgeben von knorrigen Büschen seit dem 12. Jahrhundert hier – Zeugen einer anderen Zeit. Den weissen Sandstränden mit türkisfarbenem Wasser folgen schroffe, zerklüftete Riffe, deren Felsen bis weit ins Wasser reichen. Als wollte die Natur auch im Sommer daran erinnern, dass die bretonischen Küsten zu den am Schwierigsten zu navigierenden Gewässern der Welt zählen.
Das Meer in der Bretagne ist unberechenbar, gefährlich und wunderschön zugleich. Gerade im Winter hat dieser Küstenabschnitt einen ganz besonderen Charme. Wilde Winterstürme jagen über den Atlantik und lassen meterhohe Wellenberge an die bretonische Küste donnern. Etliche Leuchttürme lotsen kühne Seefahrer auch bei grösstem Sturm um die verwinkelten Landzipfel. Ich bin jedes Mal aufs Neue davon fasziniert, wie die Türme vor der Küste den an ihren Mauern wütend emporschlagenden Wellen trotzen. Wie farbige Streichhölzer wirken sie, deren Schicksal es sein wird, dass eine grosse Woge sie dereinst weggetragen wird. Ich atme jedes Mal auf, wenn eine weitere Wasserwand einen Turm für einige Sekunden verschwinden lässt, und er dann unversehrt dahinter wieder auftaucht. Das raue Klima prägt aber nicht nur die Küste, sondern auch ihre Bewohner. Peitschender Wind, gewaltige Unwetter und über eine Woche anhaltender Nieselregen sind im Winter keine Seltenheit. Es verwundert deshalb nicht, dass die Bretonen etwas verschlossener, zurückhaltender, ein wenig eigenbrötlerischer als der Rest ihrer Landsleute sind. Gewinnt man jedoch ihr Vertrauen, dann wird man mit viel Wärme und ehrlicher Herzlichkeit aufgenommen. Dies geschieht oft bei zwei, drei Bieren oder einem in der Region gebrannten Whisky – denn die Bretonen wissen: wahre Wärme kommt von innen.
Wir erklimmen einen weiteren Hügel und der steile Weg dahinter führt uns hinunter nach Pors Poulhan – eine Reise in eine längst vergangene Zeit. Einige ältere Fischer sitzen auf der Hafenmauer. Genauso, wie das ihre Vorfahren wohl schon vor hundert Jahren getan hatten. Am Strand des pittoresken Hafens liegt ein dicker Algenteppich. Dieses Gewirr aus roten Ästchen, langen braunen Pflanzenzungen und giftgrünem Minikopfsalat nennen die Bretonen «Guémon». Er ist – je nach Meeresströmung – an den meisten Stränden des Finistères zu finden. Wenn ich surfen gehe und den Strand bis zum Wasser überquere, wage ich manchmal einige Schritte auf dem dichten Algennetz, um zu fühlen, wie meine nackten Füsse einige Zentimeter in das dichte Geflecht versinken. Besucher sagen, der Guémon stinke. Verbringt man jedoch einige Zeit hier, beginnt er nach Strand und Meer zu riechen.
Auf dem linken Hügel von Pors Poulhan legten die Bewohner des Ortes einst eine mit Schieferstein ausgekleidete Mulde an. Sie sammelten den Guémon an den umliegenden Stränden und verbrannten ihn in dieser Grube, um Schwefel zu gewinnen. Dies geschah unter dem stolzen Blick der «Bigoudène», der Statue, die neben der Grube steht. Sie verkündet moosüberwachsen auch noch heute das Ende des Cap Sizun und den Anfang des Pays Bigoudin – wiederum Teilregionen von Cornouaille. Wir setzen uns auf die Bank vor der Statue und schauen eine Weile den Fischern zu, wie sie in den grünen, blauen, gelben und roten Beibooten zu ihren Fischkuttern rudern. Dann machen wir uns weiter Richtung Süden auf.
Wir passieren einige alte, sehr stilvoll renovierte Häuser, die kühn am Rande der Klippen stehen und erreichen schliesslich Penhors. Im kleinen Hafen dümpeln zwei, drei Fischkutter, Jugendliche plantschen mit neongrünen Softtopsurfboards am langen Sandstrand im Wasser. Vor dem Pole Nautic – einem umgebauten Bunker aus dem 2. Weltkrieg, wie sie zu hunderten an der gesamten atlantischen Küste zu finden sind – steht eine Gruppe mit roten Helmen und wartet auf die letzten Instruktionen für ihr Abenteuer im «Char à voile». Wir steuern auf das «Ty Plad» zu, eine der typischen bretonischen Bars, in welcher sich Jung und Alt am Abend nach der Arbeit oder am Wochenende treffen. Vor der Bar spielen vier junge Männer eine Partie «Palet», ein typisch bretonisches Spiel. Ähnlich wie Pétanque, jedoch mit flachen, kreisrunden Scheiben, die exakt auf eine Holzplatte gespielt werden müssen. Es herrscht hohe Konzentration, das Spiel wird lauthals kommentiert und ab und zu das Glas gehoben. Wir treten in die Bar ein, wo uns das strahlende Lächeln Jessicas erwartet. Sie hat die Bar vor zwei Jahren von ihrer Grossmutter Mimi übernommen, weshalb auf einem Schild über dem Eingang in grossen Lettern «Chez Mimi» steht. Sie stellt uns drei Fläschchen Kerné hin - Cidre, der gleich um die Ecke produziert wird. Der saure Most prickelt angenehm den Rachen runter. Wir schauen zu, wie die Sonne langsam hinter dem Hafen von Penhors untergeht und der Schein aus der Bar sowie der Lichtkegel des grossen Leuchtturmes von Eckmühl die einzigen Lichtquellen werden, die am Ende der Welt leuchten.
Fotos: Alena Ehrenbold / Gaëtan Keravec / DER Touristik Suisse AG