Als Erstes stellt sich die Frage: Wie komme ich dorthin? Und vor allem: Wie komme ich wieder zurück? La Guajira ist die nördlichste Provinz des Landes und nur dünn besiedelt. Nach unruhigen Zeiten unter der Kontrolle von Paramilitärs ist das Bereisen der Region seit einigen Jahren sicherheitstechnisch kein Problem mehr, doch wird der Transport ausserhalb der Provinzhauptstadt Riohacha zum Abenteuer. «Individuell reist du sicher günstiger. Aber es kann schon drei, vier Stunden dauern, bis du jemanden findest, der dich mitnimmt», gibt mir der freundliche Angestellte im Reisebüro in Santa Marta an Kolumbiens karibischer Küste zu bedenken. «La Guajira ist ganz schön abgelegen. Und mit einer geführten Tour sind auch spontane Routenänderungen möglich». Das überzeugt mich. Die Tour dauert drei bis fünf Tage, mit einem 4x4- Offroader macht sich unsere kleine Reisegruppe auf den Weg in Richtung Norden. Nach kurzer Zeit der erste Stopp beim lokalen Supermarkt: Nebst Wasser empfiehlt uns der Fahrer und Guide Manuel, genügend Süssigkeiten zu kaufen, wir würden diese später noch brauchen. Etwas verdutzt folgen wir seinem Rat.
Die geteerte Strasse endet schon kurz nach Riohacha und vor uns erstreckt sich eine endlos scheinende Ebene aus steinigem Untergrund, auf welcher wir beim Durchfahren eine Staubspur hinter uns herziehen. Manuel ist eine eher wortkarge Begleitung, er spricht leise und mit Bedacht — im Gegensatz zum Radio, aus dem unentwegt Vallenato dröhnt, eine Art kolumbianische Volksmusik.
Die Steppenlandschaft wird langsam karger: anfangs zahlreiche Bäume und Gebüsche am Wegrand werden immer weniger und schrumpfen zu kniehohen Sträuchern, wir rumpeln über Anhöhen und passieren Salzsalinen und kraterartige Seen. Ausser vereinzelt entgegenkommenden Autos und seltenen Lehmhäusern am Strassenrand gibt es keine Zeichen von Zivilisation. Mein Handy hat seit Stunden keinen Empfang mehr. Zum Glück kennt sich der Fahrer bestens aus: Mal folgt er schwach erkennbaren Spuren am Boden, mal kurvt er zielstrebig durch vertrackte Kakteenwälder und manövriert den Jeep gekonnt vorbei an tückischen Sandbänken.
Andere Fahrer sind weniger geschickt und so begegnen wir einem tief eingegrabenen Pickup, dessen Besitzer wir unsere Hilfe anbieten. Anscheinend steckt er schon eine ganze Weile fest. «No te preocupes», mach dir keine Sorgen, beruhigt Manuel den etwas nervösen und mit einem Seil hantierenden Landsmann, während er dieses am Offroader fixiert. Doch leider reisst das Seil in Sekundenbruchteilen. Und leider hält zwar Manuels Eisenkette beim zweiten Versuch, aber der Pickup macht keinen Wank und unser Jeep hat sich nun dummerweise ebenfalls eingegraben. Was nun? Unser Guide bleibt locker: «Warten wir auf das nächste Auto». Unsere Reisegruppe ist mittlerweile nicht mehr ganz so entspannt und auch ich beginne mich mit dem Gedanken abzufinden, dass uns eine anstrengende Ausbuddel-Aktion bevorsteht. Dabei sollten wir uns etwas von Manuels Gelassenheit abschauen: Tatsächlich kommt bald ein riesiger 4x4 vorbei und wir werden Zeugen des spektakulären Schauspiels, wie dieser die anderen beiden Autos unter Motorengeheul und Staubwolken aus dem Sand befreit. Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht bedeutet uns Manuel, wieder einzusteigen.
La Guajira wird grösstenteils vom stolzen indigenen Volk der Wayuu bewohnt, welche in etwa 30 Grossfamilien organisiert sind und von Landwirtschaft und Kunsthandwerk leben — die berühmten bunt-gehäkelten Wayuu-Taschen sind hier allgegenwärtig. Auffällig ist die traditionelle Kleidung der Frauen, die weit geschnittenen Nachthemden gleicht und so hilft, die grosse Hitze besser zu ertragen. Ausserhalb der urbanen Zentren Riohacha und Uribia leben die Wayuu-Clans weitgehend unabhängig vom kolumbianischen Staat in kleinen Siedlungen. Bei der Durchfahrt verstehen wir auch schlagartig den Zweck unserer eingekauften Bonbons: In regelmässigen Abständen sind nämlich Seile über die Strasse gespannt und aus den Häusern rennende Kinder verlangen Wegzoll. Ohne Bezahlung in Form von Süssigkeiten oder wenig Geld gibt es kein Weiterkommen. Etwas befremdend. Und ein Zeichen dafür, dass der Tourismus hier tatsächlich noch in den Anfängen steht. Ebenfalls auffällig ist die Absenz von Tankstellen — durch die Nähe zu Venezuela scheint hier jeder seinen Privatkontakt zu haben, um günstig an Benzin zu kommen. Vielerorts wird es auch kanisterweise am Strassenrand feilgeboten.
Fixpunkt jeder Guajira-Tour ist Cabo de la Vela: ein kleines Fischerdorf, welches aufgrund des stetigen Windes ideale Bedingungen zum Kitesurfen bietet. Mit einem Sprung ins kristalline Wasser entfliehen wir für einen kurzen Moment der allgegenwärtigen, trockenen Hitze. Cabo de la Vela ist ein spartanisches Idyll am Meer, fernab von der modernen Reizüberflutung. Das Ambiente fasziniert durch seine Einfachheit. Die luftigen Herbergen sind wie überall in der Region aus Kakteenherzen, Lehm und Holz gebaut und geschlafen wird in Chinchorros, übergrossen farbenprächtigen Hängematten. Um 23 Uhr verstummt der Generator und der mächtige Sternenhimmel wird zur einzigen Lichtquelle. Zum hypnotischen Wellenrauschen wiegt mich der Chinchorro sanft in den Schlaf.
Es ist die Abgeschiedenheit in Kombination mit den starken landschaftlichen Kontrasten, welche La Guajira so aussergewöhnlich macht. Die Natur ist rau und still. Selten sind Tierstimmen zu hören. Der Untergrund wechselt zwischen steinig und sandig. Goldgelbe Dünen ragen in die Höhe und fallen steil ins türkisblaue Meer ab. Wer hätte das gedacht, eine Wüste in der Karibik!
Wir halten an versteckten Oasen mit Dutzenden Flamingos und baden an menschenleeren Stränden mit glasklarem Wasser. Hungrig von all diesen Eindrücken kehren wir in ein Gasthaus ein, das einzige weit und breit. Auf dem Menü steht gegrillter Fisch, Reis und etwas Gemüse. Einfach, aber frisch und lecker. Gestärkt setzen wir unsere Erkundungsreise am obersten Zipfel des Kontinentes fort. Mancherorts endet das Festland an ockerfarbenen Kliffen, dann wieder säumen grüne Mangrovenwälder ausschweifende Buchten. Wild und aufbrausend ist das Meer in Punta Gallinas, dem nördlichsten Punkt Südamerikas. Zischend peitschen die Wellen gegen die Felsbrandung des Strandes. Nur ein heruntergekommener Leuchtturm zeugt hier von menschlicher Zivilisation.
Bei einer weiteren Übernachtung komme ich mit Lorenis ins Gespräch, welche mit ihrer Familie die Rancheria betreibt. «Seit etwa fünf Jahren kommen regelmässig Touristen hierhin. Für uns ist das eine willkommene Einnahmequelle, es gibt sonst nicht allzu viel», erklärt sie mit einer ausschweifenden Handbewegung über das Hinterland. Auch Lebensmittel und Wasser sind jeweils knapp, wenn der sowieso schon spärliche Regen ausbleibt, wie dies nun die letzten beiden Jahre der Fall ist. Und woher kommt das Wasser? «Dieses haben wir unserer Schamanin zu verdanken. Lange Zeit mussten wir das Wasser von weit her transportieren, doch vor ein paar Jahren hatte sie diesen Traum, dass sich ganz in der Nähe eine Quelle befindet. Als man anderntags an der besagten Stelle zu graben begann, kam die Wasserquelle zum Vorschein». Mit Manuel wollen wir diese Quelle besichtigen: Und tatsächlich, etwa zehn Fahrminuten von der Rancheria entfernt, befindet sich mitten im Nirgendwo ein Brunnen, an dem mehrere Frauen Krüge auffüllen. Faszinierend. Ein plastisches Beispiel für das von Spiritualität geprägte Leben der Wayuu im Einklang mit der rauen Natur. Auf der mehrstündigen Rückfahrt nach Riohacha geht mir das noch lange durch den Kopf.
Fotos: Thinkstock, Christian Haueter