In Rio de Janeiro fanden im August 2016 die Olympischen Sommerspiele statt. Medaillenwürdig ist die Stadt am Zuckerhut mit all ihren Facetten allemal.
Heute ist ein guter Tag, die Vogelkäfige hängen draussen. Von Strassenlaternen, Hauseingängen und Dachvorsprüngen zwitschern Wellensittiche und Zebrafinken. Der Singsang tanzt durch die feuchtwarme Luft, die Backofentemperatur hat. Mit der Sonne, die seit Stunden vom knallblauen Himmel strahlt, hat der Ausflug ins Freie aber nichts zu tun. «Die Tiere sind lebende Warnschilder», erzählt Carlos, der als Guide durch die Favela Rocinha führt. «Wenn die Käfige draussen hängen, wissen alle Nachbarn, dass sie nichts zu befürchten haben. Sobald eine Schiesserei losgeht, werden sie sofort ins Haus geholt.»
Zweifellos: Das Leben in den Favelas von Rio de Janeiro ist gefährlich. Wer hier wohnt, muss die Spielregeln kennen. Dort, wo die Strassen keine Namen tragen und deine Nachbarn am besten auch nicht. Und doch: Vor fünf Jahren wäre ein Besuch in den Armenvierteln der brasilianischen 6,5-Millionen-Metropole noch undenkbar gewesen. Drogenbanden beherrschten die Labyrinthe aus verwinkelten Gassen und Treppenläufen, verbreiteten Angst und Crack und Kokain. Ein rechtsfreier Raum, eine No-Go-Area. Bis die Polizei Ende 2011 mit Panzern und schussfesten Westen eindrang und die ersten Favelas befriedete. Mittlerweile sind etwa fünf Prozent so sicher, dass die quirligen Mikrokosmen selbst bei Touristen ein beliebtes Ausflugsziel sind.
Wie Legosteine stapeln sich die bunten Häuschen übereinander, wachsen an den Hügeln, die Rio umspannen, höher und höher, Kletterpflanzen aus Stein und Beton. Tante-Emma-Läden verkaufen Coca-Cola, Reis und Toilettenpapier, Kinder kicken auf einem Sandplatz, ein Briefträger radelt vorbei, die Hose meerblau, das Shirt sonnengelb. «Inzwischen gibt es hier sogar Restaurants und Gästehäuser, welche von den Ausländern besucht werden», sagt Carlos und zeigt auf ein schlankes Gebäude, über dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift «Hostel» hängt. Die Schrift ist verwaschen und die Treppe so eng, dass man sie nur im Gänsemarsch hinaufsteigen kann.
Auf der Dachterrasse angekommen rast der Puls und zittern die Knie. Doch die Mühen werden mit etwas belohnt, was fast allen Favelas gemein ist: einer One-Million-Dollar-Aussicht. Auf die funkelnden Hochhäuser, den Regenwald, die Strände, den Atlantik. Spätestens jetzt bekommt man eine Ahnung davon, warum Rio den Spitznamen «Cidade maravilhosa», wunderbare Stadt, trägt — und dass es wohl kaum eine andere Metropole gibt, in der Arm und Reich so nah beieinander wohnen, die gesellschaftlichen Schichten sich vermischen wie der Schnaps mit dem Rohrzucker im Caipirinha, bittersüss.
«In diesem Sinne ist Rio eine sehr demokratische Stadt», sagt Lenny Niemeyer. Die hochgewachsene Blondine mit der Reibeisen-Stimme ist Designerin und gilt als «Brasiliens Bikini-Königin», ihre glamourösen Zweiteiler verkaufen sich von Bergdorf Goodman in New York bis Harrods in London. «An der Copacabana liegen Banker neben Busfahrern. Am Strand gibt es keine Klassenunterschiede.» Einmal, so erzählt Lenny kichernd, hätte sie hier sogar aus Versehen den Kassierer ihres Supermarktes zu sich nach Hause zum Abendessen eingeladen. «Ich war neu in der Stadt. Mir kam sein Gesicht so bekannt vor und ich dachte, es sei ein Freund meines Mannes.» Zum Glück hat der Mann ihr den Faux-Pas nicht übelgenommen. Er bedankte sich höflich, das sei sehr freundlich, aber wahrscheinlich liege eine Verwechslung vor. «In Sao Paulo wäre mir so etwas nie passiert — dort gibt es kaum Berührungen zwischen der Oberschicht und der Arbeiterklasse.»
Lenny, wie sie alle nur nennen, zog in den Siebzigern der Liebe wegen von Sao Paulo nach Rio — verloren hat die «Paulista» ihr Herz aber nicht nur an den Neffen von Jahrhundertarchitekt Oscar Niemeyer, sondern auch an die Stadt am Zuckerhut. An den Samba, die Lebensfreude, die Leichtigkeit, mit welcher das Leben genommen wird. Wo die High Heels im Schrank einstauben und stattdessen Havaianas durch den Tag tragen. Das Dolce Vita Brasiliens, nirgendwo ist es so süss wie im Schatten der Christusstatue, die auf dem 710 Meter hohen Corcovado beschützend ihre Arme ausbreitet (auf Postkarten dank Photoshop auch gerne einmal falsch herum, damit man nicht nur die Rückseite des Erlösers sieht, nao problema!). «Mittlerweile bin ich eine Einwohnerin Rios mit Leib und Seele», sagt Lenny stolz. Umso mehr ehrt es sie, dass sie als eine von fünf Designern eingeladen wurde, einen Entwurf für die Uniformen des brasilianischen Olympiateams einzureichen.
Im August 2016 blickte die gesamte Welt auf Rio, als hier die Sommerspiele stattfanden — zum ersten Mal in Südamerika. Im vornehmen Barra da Tijuca wurde das olympische Dorf, das Velodrom und das Schwimmstadion hochgezogen und an der Verlängerung der U-Bahn-Linie wurde ebenfalls kräftig gewerkelt — auch wenn der eine oder andere zweifelte, ob der Metrotunnel rechtzeitig fertig würde. Die Hügel aus Granit erweisen sich als genauso zäh wie der Verkehr, der sich tagtäglich auf der Küstenstrasse Avenida Infante D. Henrique ins Zentrum und zurück schleppt. Aber zumindest bei einer Sache konnte nichts schiefgehen: Die vier Tonnen schweren olympischen Ringe trafen pünktlich mit dem Schiff aus London ein. Das Symbol für Völkerverständigung steht im Park des Vororts Madureira.
Auch der alte Hafen, mit seinen heruntergekommenen Lagerhäusern und Kaschemmen einst Anlaufstelle für Prostituierte, Matrosen und Drogendealer, wurde aufgehübscht. Rechtzeitig zu den Spielen entsteht hier ein neues Vergnügungsviertel. Ohne Rotlicht, dafür mit Boutiquen, Restaurants, Büros und Fahrradwegen. Immobilientycoon Donald Trump plant bis 2018 gar fünf Wolkenkratzer und auch Norman Foster habe ein Projekt in der Pipeline, munkelt man. Erst vor wenigen Wochen wurde am Pier Maua das Museum der Zukunft vom spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava eingeweiht. Das weisse, langgezogene Gebäude erinnert an den Blütenstand einer Bromelie, die im Urwald Brasiliens wächst.
Im Rücken von Rios neuem Wahrzeichen liegt das historische Centro, welches lange Zeit die Spielwiese von Taschendieben war und von den Touristen gemieden wurde. Langfinger sind in den engen Gassen zwar immer noch unterwegs, mittlerweile ist die Altstadt aber sicherer geworden und mit ihren barocken Kirchen, Theatern, Samba-Clubs, Elektronik- und Badelatschen-Läden der Schmelztiegel der Stadt, in dem es wunderbar brodelt und zischt. Eine ruhige Blase in dem Kochtopf der Kulturen, wo die Portugiesen gegen die Franzosen 1565 um die Vorherrschaft kämpften, ist die Confeitaria Colombo in der Rua Gonçalves Dias. Das Jugendstilcafé aus der Belle Epoque wurde 1894 eröffnet und ist seither eine Institution. Noch immer muss man Schlange stehen, um an einem der begehrten italienischen Marmortische Platz zu nehmen und «Romeo e Giulietta» zu verputzen, weissen Weichkäse mit Guavengelee.
Natürlich, das Zentrum ist spannend und auch das Künstlerviertel Santa Teresa, über dessen Kopfsteinpflaster noch die Bonde, die 100 Jahre alte Strassenbahn rattert, ist sehenswert — aber Rio, seufzt Lenny, sei nirgendwo so schön wie in Ipanema, der Wiege des Bossa Nova. «Als ich herzog, wollte ich unbedingt in diesem Stadtteil wohnen. Seitdem ich das Lied gehört habe, war der Ort für mich ikonisch.» Auch eine ihrer Boutiquen befindet sich hier, in der Rua Garcia d`Avila, in direkter Nachbarschaft zu Louis Vuitton und dem Juwelier H. Stern. Die eingeschossigen Häuser sind eingerahmt von Palmen und Trompetenbäumen, welche von wilden Orchideen und Lianen umschlungen werden. Es sieht aus, als wolle der Regenwald, der die Morros, die unzähligen Hügel der Stadt, in ein sattes Grün kleidet, die Strassen zurückerobern.
Lenny selbst lebt im Norden von Ipanema, direkt an der Lagune, wo auch die Rudermeisterschaften stattfinden werden. «Die Topografie ist grossartig, nach der Arbeit fahre ich gerne Wasserski», erzählt die sportliche Designerin. Oder sie übt sich im Stand-up-Paddling, aber nur, wenn das Meer es zulässt, die Wellen in der Guanabara-Bucht sich eine Verschnaufpause gönnen. Ohnehin scheint der sichelförmige Strand ein einziges Open-Air-Gym zu sein. Über den Netzen der Beachvolleyballfelder fliegen die Bälle hin- und her, Jogger sprinten über die Promenade aus schwarz-weissen Mosaiksteinen und Bodybuilder stählen ihre Muskeln an kostenlosen Gerätestationen. Der Strand — die Bühne für das grosse Schaulaufen, der Catwalk der Stadt. Besonders am Posto 9, dem Rettungsschwimmerposten der Reichen und Schönen. «Hier liege ich auch am liebsten», verrät Lenny, «meine Freunde wissen genau, wo sich mich finden».
Nur am Abend stiehlt selbst den heissesten Cariocas jemand die Show: die Sonne, die wie ein leuchtend roter Diskus hinter den Dois Irmaos, den beiden Brüderhügeln, im Meer versinkt und Rio ein goldenes Tuch überwirft. Begleitet vom Applaus hunderter Zuschauer, die das Schauspiel vom Felsvorsprung Pedra do Arpoador aus beobachten. Keine Frage, heute war ein guter Tag.
Hotels
Belmond Copacabana Palace: Das Luxushotel aus dem Jahr 1923 liegt direkt an der Copacabana und ist eine Legende. Prominente wie Marlene Dietrich oder Madonna kehrten hier ein. Die Lobby soll die liebste Shootinglocation von Mario Testino sein.
Hotel Fasano: Von Philippe Starck entworfenes Designhotel in Ipanema. Das Haus gehört zu den Leading Hotels of the World, schicker Pool und Bar auf dem Dach. Das elegante Restaurant Al Mare serviert feinste italienische Küche des sternegekrönten Chefkochs Paolo Lavezzini.
Gourmet
Confeitaria Colombo: Das Jugendstilcafé im Zentrum ist eine Institution.
Mr. Lam: Chinesisches Essen für Gourmets. Unbedingt die Erdnuss-Sauce kosten, für die das Restaurant an der Lagune berühmt ist.
Einkaufen
Lenny Niemeyer: Elegante Beachwear-Mode mit besonderem Twist. Auch bei Net-a-Porter erhältlich.
Farm: Fröhliche Kleider, Tops und Shorts, die einfach gute Laune machen und das Lebensgefühl Brasiliens einfangen.
NK: Von Lanvin über Céline und Chloé findet die Fashionista hier alles, was das Herz begehrt.
Kultur
Museu do Amanhã: Rios neues Wahrzeichen: Das Museum der Zukunft von Santiago Calatrava.
Favela-Tour: Die Favelas sollte man am besten mit einem Guide besuchen. Zum Beispiel mit Crux Ecoaventura.
Dieser Artikel erschien im Original im Magazin Bolero (Ausgabe März 16)
Fotos: Tina Bremer