Stellen Sie sich jetzt mal vor, Sie sind in Zürich — und Zürich wäre eine sehr überschaubare Insel, nur von Ihnen und weniger als 6000 weiteren Menschen bewohnt. Und das nächste Stückchen Land wäre eine ähnlich kleine Insel, soweit weg von Zürich wie Moskau. Dazwischen: Blau. Blaues Meer, blauer Himmel. Und sonst: absolut gar nichts. Und jetzt stellen Sie sich vor, das nächstgelegene Festland wäre dann nochmals fast doppelt so weit weg. Also irgendwie ziemlich einsam und weltvergessen, oder? Jedenfalls fühlte ich mich so, als ich auf der Osterinsel landete — und damit mitten im Pazifik.
Vor 1500 Jahren, als die Insel vermutlich besiedelt wurde, gab es keine Flugzeuge. Dafür aber todesmutige Polynesier in Einbäumen auf der offenbar sehr verzweifelten Suche nach neuem Land. Damals soll die Insel tropisch üppig bewachsen gewesen sein — kaum zu glauben, wenn man das Eiland heute sieht ...
Ich lande also auf diesem gottverlassenen Flecken Erde mitten im unendlichen Blau auf einem Flughafen, der dank amerikanischer Raumfahrt-Ambitionen existiert: Er sollte ursprünglich als Notfall-Landebahn für US-amerikanische Space Shuttles dienen. Der Insel verschaffte er schliesslich so etwas wie Tourismus. Und ich immigriere dort nach Chile — das Festland ist jedoch über 3500 Kilometer weit weg.
Der einzige Ort auf der Insel, Hanga Roa, ist sehr überschaubar, aber auf Touristen vorbereitet: Taxis, Hotels und Hostels, Restaurants und Cafés, ein Bankomat, Souvenirshops, ein Postamt und ein paar Autovermietungen mit glücklicherweise robusten Gefährten decken die gröbsten Bedürfnisse der Besucher ab. Aber bitte keine Extrawürste: Café con Leche? Nein, Milch gibt es momentan keine auf der Insel, das nächste Versorgungsschiff kommt aber bald. «Mañana» oder so — zumindest eine gewisse südamerikanische Ungezwungenheit hat es bis hierher geschafft.
Ich miete einen kleinen Jeep für den nächsten Tag, um die Insel auf eigene Faust zu erkunden. Schliesslich kann man sich auf den 13x24 Kilometern nicht wirklich verfahren — oder? Zu sehen gibt es: einen Krater und eine archäologische Stätte im Süden, die berühmten Moais, die Steinköpfe — mehr oder weniger restauriert, manchmal aber auch einfach rumliegend — einen Steinbruch, wo die Moais herkommen und einen kleinen, aber feinen Sandstrand sowie nichts weniger als den «Nabel der Welt», eine Steinformation höchst zweifelhaften Ursprungs. Der «Nabel der Welt» ist ein runder, von der Natur glatt polierter, Stein, der von vier kleineren Steinen und einem Steinkreis flankiert ist. Dieser Steinkugel werden mystische Kräfte zugewiesen.
Die Insel ist kaum bewachsen. Kurzes, zerzaustes Gras hält eine mickrige Humusschicht zusammen, die Küste franst felsig aus. Seit Jahrmillionen peitscht das Meer unermüdlich dagegen. Wie konnten hier Menschen überleben? Weil alles einmal anders war: Als die ersten Polynesier die Insel besiedeln, ist sie einladend grün. Man lässt sich nieder, lebt im Überfluss, pflanzt sich fort. Eine Stammeskultur mit Hierarchien, einem Glaubenssystem und sogar einer Schrift entwickelt sich. Doch dann beginnen die Bewohner, die Insel abzuholzen, um mehr Anbauflächen zu schaffen und um grössere Boote zu bauen, mit denen man weiter draussen fischen kann. Eine unglückselige Spirale nimmt ihren Anfang: Weniger Bäume führen zu mehr Erosion, dann sterben irgendwann die Vögel aus, der Boden wird unfruchtbar und schon hat man nichts mehr zu essen und geht sich gegenseitig fürchterlich auf die Nerven und an die Gurgeln. Man munkelt von Kannibalismus. Die verehrten und aufwändig hergestellten Steinköpfe werden zu stummen Zeugen einer Tragödie.
Die geteerte Strasse ist zu Ende. Für die meisten Touristen Anlass, umzukehren. Ich fahre weiter. Vorbei an mehr Ödnis, an freilebenden Pferden, für die sich niemand zu interessieren scheint und die sich immer wieder genüsslich an den Moais reiben. Vorbei an vertrockneten, abgenagten Tierskeletten und dann ab und zu wieder Anzeichen dieser untergegangenen Zivilisation in Form von Felszeichnungen.
Auf dem Rückweg vom Anakena Strand nach Hanga Roa dann die Überraschung: Wieder Schatten — diesmal von einem etwas monotonen, aber wunderbar duftenden Eukalyptus-Wäldchen. Mitten auf der Insel und mühsam der dünnen Humusschicht und viel Dünger abgerungen. Ich entschliesse mich, auf einem kurzen Umweg der Küste entlang zurück ins Dorf zu fahren. Daraus wird ein mittleres Abenteuer: Der kurze Umweg entpuppt sich als kaum zu meisternde Schlaglochpiste mit ungeahnt tiefen Pfützen und weiteren Herausforderungen in Form von unbeeindruckten Felsbrocken. Jetzt wird mir auch klar, warum eigentlich fast nur robuste Jeeps zu mieten sind. Ich bin sehr dankbar dafür und beschliesse, der Autovermietung auf keinen Fall von meiner Abenteuerfahrt zu erzählen — falls ich es denn überhaupt je zurück schaffe, was ich mehr als einmal ernsthaft bezweifle. Aber ja klar, ich schaffe es. Unglaublich erleichtert und unbeschadet.
Als die europäischen Entdecker Ende des 18. Jahrhunderts auf die Insel kamen, beschreiben sie diese als unwirtlich und uninteressant. Es dürften damals noch wenige Tausend Einwohner darauf gelebt haben — zur Blütezeit waren es wahrscheinlich bis zu 10'000 gewesen. Danach folgte kein rühmlicherer Abschnitt: Sklaverei und eingeschleppte Krankheiten sorgten dafür, dass die Bevölkerung innert hundert Jahren auf rund 100 Menschen zurückging. Dann annektierte Chile die Osterinsel aus militärisch-strategischen Gründen. Ein kleiner Aufschwung verhalf den Bewohnern zu mehr Selbstvertrauen: Die USA erkannten die strategische Nützlichkeit der Insel und investieren in eine kleine Infrastruktur, Archäologen aus verschiedenen Ländern kamen. Seit ein paar Jahrzehnten hat sich das Verhältnis zwischen der Insel und Festland-Chile entspannt. Heute leben hier um die 6000 Einwohner, wobei etwa die Hälfte vom Festland hergezogene Einwanderer sind.
Warum Besucher überhaupt hierher kommen? Es geht sicherlich um Exklusivität, mit einem Besuch auf der Osterinsel lässt sich auch in weitgereisten Kreisen noch angeben. Aber auch um diese absolut einmalige Lage und Geschichte. Beides lässt einem einen kleinen Schauer über den Rücken laufen. Für mich ist die eigentliche Sensation, überhaupt da zu sein; das Gefühl, ausserhalb von Raum und Zeit zu sein. Mit diesem Gedanken besorge ich mir das wohl ungewöhnlichste Souvenir all meiner bisherigen Reisen: eine unbedruckte Tasse. Das perfekte Sinnbild für diese Reise. Darum, weil die Osterinsel als Ganzes irgendwie unfassbar blieb, keinen wirklichen Charakter hat und ein Mysterium ist, das sich nur schwierig in Worte fassen lässt. Damit setze ich mich an die kleine Hafenpromenade, schaue ein paar Surfern zu. Wann wohl wieder ein Versorgungsschiff mit Milch kommt?
Obwohl die Osterinsel geographisch zu Polynesien gehört, findet man aufgrund ihrer vulkanischen Entstehung nicht viele Sandstrände entlang der 58 Kilometer langen Küste. Genau gesagt gibt es nur drei: Pae, Ovahe und Anakena. Der Anakena Strand ist der schönste und auch der grösste Strand der Insel. Er liegt auf der nordwestlichen Seite der Küste und ist von Hanga Roa nur mit dem Mietwagen erreichbar. Doch in der mit weissem Sand geschmückten Bucht kommt schnell unbeschwerte Ferienstimmung auf: dank Souvenirshops, Essensständen und viel Platz unter aufgeforsteten langhalsigen Palmen.
Fotos: iStock, Sarah Pally