Versteckt und eingeklemmt zwischen den grossen Nachbarn Argentinien und Brasilien wird Uruguay auf der Reise-Planung oft vergessen. Dabei hat das zweitkleinste Land Südamerikas überraschend viel für seine Besucher zu bieten. Auf wenigen Kilometern warten Stadt, Strand, Wein und Pampa. Eine Reise durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines charmant zurückhaltenden Landes.
Wer war schon einmal in Uruguay? Niemand. Wieso? Komischerweise hat es der einladende Ruf Uruguays noch nicht über den Atlantischen Ozean geschafft. Vielleicht liegt es daran, dass Argentinier, Chilenen und Brasilianer wissen, wie man ein Ferien-Geheimnis hütet. Denn solange wir Europäer nicht mitbekommen, welche Überraschungen hier auf uns warten, haben sie die weiten Strände, feinen Restaurants und historischen Estancias für sich allein! Zeit, das Geheimnis zumindest ein bisschen zu lüften.
Der Start in mein langes Uruguay-Wochenende beginnt im 17. Jahrhundert. Zumindest fühlt sich der Besuch des kleinen Städtchens Colonia de Sacramento wie ein Ausflug in die Vergangenheit an. Die Altstadt mit Kopfsteinpflaster-Gässchen und geduckten, bunten Kolonialhäusern erzählt von Zeiten, als Händler und Feudalherren der alten Welt diesen Ort als diplomatischen Laufsteg nutzten. Es war die strategisch perfekte Lage am Rio Uruguay, dem Eingang zur vergoldeten Welt der Anden, die Colonia in einen Spielball zwischen Spanien und Portugal verwandelte. Abwechselnd zogen die beiden Seehandelsmächte von dort aus ihre kolonialen Fäden. Das Resultat: Colonia de Sacramento ist die einzige Stadt der Welt, in der man sowohl spanische als auch portugiesische Architektur findet. Für die UNESCO Grund genug, das kleine Städtchen mit knapp 30 000 Einwohnern zum Weltkulturerbe zu erklären. Und für mich Grund genug, zu flanieren und die gemütliche Atmosphäre aufzusaugen. Heutige Handelsmacht? Unbezahlbare Gelassenheit!
Kulturerbe, Machtspiele, Kolonialgeschichte – bei einem Spaziergang durch die Gassen geraten diese Fakten schnell in den Hintergrund. Schon nach einer halben Stunde sitze ich in einem Kaffee und beobachte Fischer, die ihre Ruten im Rio baumeln lassen. Nicht besonders ambitioniert. Man möchte ja hier keine Wettbewerbe gewinnen, sondern einfach nur die Weite des Flusses geniessen. Ein (sehr langsamer) Spaziergang durch die Altstadt dauert kaum länger als zwei Stunden und führt entlang der alten Stadtmauer. Souvenirlädchen und Künstlerateliers bieten unaufdringliche Verschnaufpausen. Zwar liegt Buenos Aires Luftlinie nur knapp 100 Kilometer entfernt, doch von Grosstadt ist hier nichts zu spüren. Hektik ist den Bewohnern ein Fremdwort. Wenn am Abend die Gaslaternen aufleuchten, es fehlt nur noch das Klappern von Pferdehufen auf dem Pflaster, um die Reise in die Vergangenheit komplett zu machen.
Nächster Tag, nächster Halt: Gegenwart. Die dreistündige Busfahrt von Colonia in die 1,3 Millionen Hauptstadt Montevideo führt durch saftiges, grünes Hinterland. Die braun-schwarzen Punkte, die sich träge durch die Landschaft bewegen, sind das Kapital des Landes. Auf jeden der vier Millionen Uruguayer kommen drei Rinder – Vierbeiner sind klar in der Überzahl. Doch trotz tierischer Dominanz ist Montevideo eine kulturell anspruchsvolle Hauptstadt und alles andere als ländlich. Es war vor allem der südamerikanische Rinder-Boom, der dem Land schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen Platz weit oben auf der Liste der Top-Auswanderungsländer verschaffte. Der Anfang des kulturellen Aufschwungs – für Uruguay und seine Hauptstadt.
Seither hat sich nicht viel getan. Zumindest an der Oberfläche. Bröckelnde Fassaden an bizarren Zuckerbäckerstil-Häusern lassen eine pompöse Vergangenheit erahnen. Bunte, durch die Avenidas zuckelnde Oldtimer rufen eher «Havanna» als Uruguay. Fehlt nur noch ein Salsa tanzendes Paar – bin ich hier richtig? Aber natürlich: Die Tür eines Kaffeehauses öffnet sich und schon wehen mir die melancholischen Töne des Tangos an die Ohren. «Du bist das Buenos Aires, das wir einmal hatten», schrieb der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges über das heutige Montevideo. Wehmut, ob der eigenen verlorenen Traditionen klingt aus seinen Worten. Denn Uruguay besitzt die Gelassenheit, der schnelllebigen Zeit die kalte Schulter zu zeigen. Erst einmal ein Glas Wein, dann sehen wir weiter...
Für junge Uruguayer ist diese vermeintliche «Rückständigkeit» nicht ausschlaggebend. Denn sie wissen: Was zählt, ist der Fortschritt des Geistes und der Aufbruch in eine neue Zeit. Hinter der bröckelnden Fassade der Häuser bewegt sich einiges: Das Land zählt momentan zu den liberalsten und wirtschaftlich erfolgreichsten des ganzen Kontinents. Doch bloss nicht protzen! Lieber geniessen die Menschen in Ruhe das kulturelle und kulinarische Leben in der Hautstadt. Wer während der Mittagszeit durch die Hallen des «Mercado del Puerto» am Hafen streift, bekommt einen saftigen Eindruck, was Genuss heisst. Auf riesigen Holzkohlengrills zischt kiloweise frisches Rindfleisch und Gemüse – aus landeseigener Produktion versteht sich. Guten Appetit!
An diesem heissen Sommer-Samstag gehört der Markt den brasilianischen und argentinischen Gästen. Denn die Hitze über der Stadt treibt die einheimischen Grill-Stammgäste an die Strände. Ich folge ihrem Beispiel nur allzu gerne. «Adios Montevideo – hola Playa!» Ein paar Kilometer östlich der Hauptstadt begrüsst mich der unbeschwerte Sommer. Der Strand und das «richtige» Meer beginnen mit dem Ort Punta del Este, dem St. Tropez Südamerikas. Hier mündet der Rio de la Plata in den Atlantik und das Wasser tauscht sein braunes Kleid gegen klar-blaues Wasser gesäumt von weissen Sandstränden. Im Stadtzentrum garantieren moderne Appartement-Hochhäuser in erster Reihe den Blick auf den Strand und die Oldtimer weichen BMW-Cabrios. Wer etwas auf sich hält, mietet zum Ferienhaus gleich den Yachtplatz im Hafen mit dazu. Etwas ruhigere Strände liegen ein paar Kilometer nördlich von Punta. Hier hat man den Strand – ausserhalb der Saison – meist für sich alleine. In Orten wie la Barra, Manatiales oder Jose Igancio stehen Designerboutiquen, Galerien und kulinarische Höhepunkte im Vordergrund. Kostenlos gibt es den Augen- und Gaumenschmaus nicht – Punta del Este samt Umgebung zählt zu den teuersten Orten Südamerikas.
Zu viel Schick? Am letzten Tag meiner Uruguay Kurz-Visite lasse ich den Luxus und touristische Infrastruktur hinter mir und mache mich auf in das einfache Paradies! Die in Naturschutzgebieten gelegenen Strandorte La Paloma, Cabo Polonio oder Punta Diablo sind die stille und rustikale Variante des Strandurlaubs. Doch Langeweile kommt trotz fehlender Animation nicht auf. Hier tauscht die Gaucho-Surfszene Pferd gegen Surfbrett und reitet die atlantischen Wellen bis zum Sonnenuntergang. Gedankenverloren spaziere ich durch den feinen Sand und lasse die vergangenen Tage Revue passieren. Doch bevor das Schwärmen mich überkommt… viel mehr möchte ich nicht verraten, denn das habe ich meinen argentinischen Freunden versprochen. Ein bisschen Geheimnis muss noch bleiben.
Geboren in Montevideo, gelebt in der Welt, zuhause in Punta Ballena. So liesse sich das Leben des uruguayischen Künstlers, Bildhauers und Architekten Carlos Páez Vilaró kurz zusammenfassen. Als «Picasso Südamerikas» wurde er oft bezeichnet. Es war vor allem das gemeinsame Interesse an afrikanischer Kultur, das die beiden einzigartigen Künstler verband. Auf der Suche nach afrikanischen Elementen in der Südamerikanischen Kultur trieb es Vilaró nach Brasilien, Argentinien, Haiti und die dominikanische Republik. Um kurz darauf das Gesehene und Erlebte in seiner Kunst festzuhalten. Wer mehr über die Werke und das Leben des 2014 verstorbenen Künstlers erfahren möchte, dem stehen nun die Türen zu seinem Lebenswerk offen: Im «Casapueblo», seinem Haus für das Volk, können Besucher in einem Museum seine Kunst und Architektur erleben. Der ausladende Gebäudekomplex zieht sich über weite Teile des Punta Ballena, einer Landzunge an der Meeresküste in der Nähe von Punta del Este. Es gleicht dem Stil griechischer Inseldörfer und fängt mit puren Weiss, runden Kaskaden und verwinkelten Türmen Auge als auch Sonne ein. Jeden Abend findet hier die „Zeremonie der Sonne“ statt. Pünktlich zum einsetzenden Sonnenuntergang finden sich die Gäste auf den weiten Terrassen des Casapueblo ein um zu beobachten wie der rote Ball sich langsam mit dem Meer verbindet. Begleitet wird das Ganze von der auf Tonband aufgenommen, tragenden Stimme des Künstlers, der dem Besucher in Form eines Gedichtes vermittelt, wieso er genau an diesem Ort sein Haus und Lebenswerk errichtet hat – spätestens wenn die Möwen am Haus entlang gleiten und die Sonne das Haus in ein magisches Licht taucht, kann man Carlos Páez Vilarós Ortswahl mehr als gut nachvollziehen.
Fotos: Barbara Meixner / DER Touristik Suisse AG