Es ist Dienstag. Nach einer fast 20-stündigen Reise und von der drückenden Hitze des chinesischen Hochsommers gehörig schwitzend, stehe ich am Flughafen und rechne mit einem mühsamen Einreiseprozedere. Aber schon nach fünf Minuten stempeln sie meinen Pass ab und es heisst «Willkommen in China». Meine Stimmung hebt sich augenblicklich und bis ich rund anderthalb Stunden später in meiner Unterkunft ankomme, läuft es wie am Schnürchen. Den Airport Express Zug finde ich sofort, das Ticket dafür bekomme ich ohne Schwierigkeiten, das Umsteigen auf die U-Bahn meistere ich problemlos und zum Schluss finde ich den Weg mitten ins Getümmel auf Anhieb. Aller Anfang ist schwer? Von wegen, Peking hat es mir leicht gemacht — danke.
Chinas Hauptstadt hat zwei Gesichter. Da sind die gigantischen Strassenzüge, die achtspurigen, kurz vor dem Kollaps stehenden Stadtautobahnen und die hochmodernen Hochhäuser links und rechts davon. Wie in jeder Grossstadt finden sich Luxusläden, umherhetzende Geschäftsleute und wohlhabende Touristen, die Shopping- statt Buddha-Tempel besuchen. Das traditionelle Gesicht zeigt sich einem plötzlich — die Hutongs, jene Viertel, wo Peking noch China ist, und (fast) nur China. Hier leuchten von allen Häusern grelle Reklamen. Die Häuser selbst sind flach, grau, stehen eng beieinander und lassen nur wenig Platz für Gassen und Wege. Die Leuchtreklamen versprechen alles und nichts — mir jedenfalls. Die Gassen sind voll mit Marktständen, Garküchen, allerlei einladenden Auslagen und vor allem Menschen. Überall schlendern, rennen, spazieren und hetzen sie zu Fuss, auf Velos oder Mofas umher. Es wird gehupt, geredet, geschrien, verhandelt und gelacht.
Tagelang bin ich durch diese Gässchen gewandert, habe geschaut, gerochen, erlebt und genossen. Hier ein Fleischspiesschen, da ein Gebäck, dort eine Nudelsuppe. Immer frisch, immer lecker. Eine richtige Touristenattraktion ist der Nightmarket, unweit der Einkaufsstrasse Wangfujing. Die Spiesschen mit Raupen, Maden, Käfern und vor allem — Skorpionen sind ein Publikumsmagnet. Es gibt sie im Grossformat und pechschwarz oder eher klein und lebendig aufgespiesst. So gross war meine Wagemut dann doch nicht.
...gehen, müsste es an dieser Stelle wohl heissen. Was ich an meinem ersten Tag in Peking im Mao-Mausoleum erlebt habe, lässt sich auf grosszügig geschätzte vier Minuten reduzieren. Schnell muss es offenbar gehen, als ich mich unwissend mit Rucksack und Kamera in die Menschenschlange stellen will. Schon packt mich ein älterer Chinese in Uniform und redet auf mich ein. Ich vermute, er spricht Englisch. Von seinem bröckeligen Satz verstehe ich zum Schluss lediglich die Frage: «Visit Mao?» Ich nicke und schon zerrt der hilfsbereite Herr mich weg vom Mausoleum. Rucksack und Kamera haben bei Mao nichts verloren. Schliesslich nähere ich mich der äusserst zügige voranschreitenden Reihe vor dem Eingang. Warum das so zügig geht, ist mir inzwischen klar. Die Mao-Besucher werden im Akkord durch das Mausoleum geschleust, und das geht so: Rein — Mao verehren — raus.
In Raum eins sitzt Mao als überlebensgrosse Statue. In Raum zwei werden die Besucher in zwei Kolonnen aufgeteilt und in Raum Nummer drei geführt. Hier liegt die aufgebahrte Wachsfigur, die einst der Grosse Vorsitzende Mao gewesen ist. In Raum vier werden die Kolonnen wieder zusammengeführt und einige Sekunden später stehe ich wieder im gleissenden Morgenlicht. Für die alltägliche Vorsitzenden-Verehrung deckt man sich hinter dem Gebäude an den Devotionalien-Ständen ein.
Einst war sie das Zentrum des chinesischen Kaiserreichs — die Verbotene Stadt. Ich trete unter dem Gemälde Maos durch das Tor des himmlischen Friedens und spaziere auf den ersten grossen Hof. Der Weg durch das dritte Tor führt zum kaiserlichen Palast. Doch was dahinter liegt, vermag mich nur wenig zu begeistern. Hingegen die Keramik- und Porzellanausstellung in einem Seitentrakt gefällt mir. Nur wenige Leute verirren sich hierhin und die Räume sind klimatisiert. Ansonsten herrscht an diesem Ort das grosse Schwitzen und Hetzen. Viele Gebäude sind gesperrt oder können nur von der Türschwelle aus eingesehen werden. Ich erspare mir einen Ausflug in die schweissgetränkte Menge. Entlang des Wassergrabens, welcher die Anlage umgibt, kehre ich gemächlich zum Eingang zurück und besuche den Zhongshan Park. Hier fühle ich mich wohl: viel Grünfläche, schattenspendende Bäume, Bänke zum Verweilen, kleine Pavillons.
Ein Besuch der Grossen Chinesischen Mauer ist Pflicht — zu Recht. Die meisten Touren führen in das nahe gelegene Badaling. Entsprechend überfüllt soll es dort auf der Mauer sein. Ich entscheide mich für einen Trip nach Nordosten. Mein Ziel liegt relativ weit ausserhalb der Stadt, doch meine zusätzlichen Mühen werden belohnt. Das Mauerstück bei Jinshanling ist über eine Luftseilbahn erreichbar. Dort schlängelt sich diese gewaltige Mauer von Hügel zu Hügel, hoch und runter so weit das Auge reicht. Drei Stunden später stehe ich nach einer schweisstreibenden Wanderung wieder an der Seilbahn. Vom konstanten Auf- und Absteigen bin ich nun hundemüde und hungrig — dafür durch und durch zufrieden. Über die Tatsache, dass die Mauer trotz ihrer gigantischen Grösse vom Weltall aus nicht sichtbar ist, tröstet mich der abenteuerliche Wander- und Kletterausflug am Abend hinweg.
Ich verlasse Peking nach einer Woche mit dem Zug in Richtung Shanghai. Mit den chinesischen «Superfast Trains» wird die 1300 Kilometer lange Strecke in weniger als sechs Stunden zurückgelegt.
Über Shanghai habe ich nicht nur Gutes gehört. Es sei ein kapitalistischer Moloch, wo ohne Rücksicht ganze Stadtviertel platt gemacht würden, um neue, moderne Glas-und Beton-Ungetüme hinzustellen. Mein erstes Ziel: nach dem alten Shanghai suchen. Gemäss meinem Reiseführer ist das gar nicht so schwierig. Ich bin leicht irritiert, als ich im Viertel des Yuyuan Garden ankomme — das kann nicht das alte, traditionelle Shanghai sein. Häuser im Pagodenstil, vollgestopft mit Souvenirläden, Billigrestaurants, nationalen und internationalen Fastfoodketten und Teehäusern. Ein chinesisches Viertel? von wegen. Ich leiste mir dann doch den Eintritt in den Yuyuan Garden und werde für meinen Griff in den Geldbeutel entschädigt. Die Gartenanlage macht einen authentischen Eindruck und ist so weitläufig, mit Seen, Flüsschen, Hügeln und Pavillons bestückt, dass sich die Menschen problemlos verteilen und ich die Ruhe des Ortes spüren kann.
Etwas ernüchtert wandere ich ziellos durch die Strassen und werde völlig unvermittelt doch noch fündig: Mein Blick fällt auf eine lebhafte Strasse voller Menschen. Links und rechts liegen Kisten, Körbe, Kühlschränke, Tröge. Ich stürze mich ins Getümmel. Velofahrer klingeln, Mofas hupen, Menschen rufen, lachen, schwatzen, handeln. Ich bin in der Lebensmittel-Einkaufsstrasse gelandet. Fruchtauslagen, Bottiche mit Fischen und Meeresfrüchten, Bäckereien, aus denen es verführerisch duftet, Süsswarenläden voll mit glitzerndem Zuckerzeugs. Ich schaue hier und da, knabbere neugierig an einem Süssgebäck, schnabuliere ein exotisches Spiesschen und beisse herzhaft in einen saftigen Apfel. Ich wandere weiter durch belebte Gassen und lande auf einem Markt, der auf ungewöhnliche Waren spezialisiert ist — Tiere. Aber nicht Hühner, Hunde oder Katzen, sondern vor allem Insekten stehen in den Auslagen. Heuschrecken, Grillen, Würmer, Maden so weit das Auge reicht. Dazu gesellen sich Kanarien- oder andere Kleinvögel, Babyhamster, Schildkröten und Goldfische — ich frage mich, ob hier Haustiere oder ausgefallene kulinarische Spezialitäten angeboten werden.
Die politischen Tänze wurden in China immer schon in anderen Städten getanzt, Xi'an, Nanjing und Peking. Wirtschaftlich war Shanghai durch die Lange an der Mündung des Jangtsekiang von jeher bevorteilt. Nach dem ersten Opiumkrieg erzwangen die Briten 1842 die Öffnung Shanghais für den Handel mit Europa. In der Stadt entstanden in der Folge die sogenannten Konzessionen, britisch, französisch, amerikanisch und japanisch, alle geprägt von der Kultur und Architektur dieser Länder.
Heute ist davon nicht mehr viel zu sehen. Das Stadtzentrum wird dominiert von modernen Wolkenkratzern und architektonischen Experimenten. Doch es gibt sie noch, die eleganten Strassenzüge, Stadtpalais und Alleen. Die French Concession wird in jedem Reiseführer erwähnt und das zu recht. Die meisten Strassen werden von schattenspendenden Bäumen gesäumt, die Häuser sind alt, doch alles andere als heruntergekommen. Cafés und Boutiquen haben sich eingemietet. Die Strassen sind belebt, aber nicht überfüllt. Ich fühle mich nicht gerade wie in Paris, aber das Viertel strahlt diese gewisse Leichtigkeit und einen unverwechselbaren Charme aus.
Prunk und Reichtum demonstrieren die Palais an der Zhongshan Road entlang des Huangpu-Flusses. Der Strassenzug wurde vor einigen Jahren durch die Fussgängerpromenade «The Bund» aufgewertet. Auch wenn ein Spaziergang zwischen tausenden von Menschen seinen Reiz hat, wirklich interessant ist der Blick auf die prächtigen Gebäude dahinter: viktorianisch, klassizistisch und im Jugendstil gehalten.
Eigentlich wollten die Briten Shanghai zu ihrer chinesischen Kronkolonie machen. Da dieses Unterfangen scheiterte fiel die Wahl auf Hongkong. Diesem Rückstand eifert Shanghai bis heute nach und versucht verzweifelt an internationaler Bedeutung zu gewinnen. Der Stadtteil Pudong östlich des Huangpu steht sinnbildlich für Shanghais Bemühung eine Finanzmetropole mit globalem Gewicht zu werden. Ein Glasturm überragt den nächsten. Derzeit ist das höchste Gebäude der Stadt der «grösste Flaschenöffner» der Welt, das World Financial Center. Während Pudong das wirtschaftliche Aushängeschild Chinas werden soll, ist die Nanjing Road bereits der Inbegriff der Kommerzialisierung. Der Ostteil der Strasse ist die grösste Fussgänger-Einkaufs-Strasse Chinas. Zum ersten Mal habe ich nicht den Eindruck der einzige Nicht-Chinese im Umkreis von einem Quadratkilometer zu sein. Dieses Gefühl bleibt dennoch nicht lange haften. Nach einer Woche Schanghai wartet bereits wieder der Flieger in Richtung kleine, niedliche Schweiz auf mich.
Fotos: Oliver Fischer