Los Angeles ist ein Traum. Ein schöner, visionärer, glücklicher Traum. Aber auch ein Seifenblasentraum und ein Albtraum. Die Megalopolis zwischen Pazifik, Wüste und Bergen ist alles, was man sich wünscht, alles was man liebt, aber auch alles, was man verachtet.
Diese Stadt bewegt sich zwischen traumhaften Stränden, tiefen Schluchten, magischen Sonnenuntergängen, Glamour und vibrierender Energie, aber auch Stau, Chaos, Armut, Egozentrik und oberflächlicher Scheinwelt. Unglaubliche Erfolgsgeschichten sind an der südkalifornischen Pazifikküste möglich, aber auch Abstürze und grandioses Scheitern. Alles ist in Bewegung. Die einen kommen, die anderen gehen. Nichts ist heute gleich wie gestern. Innovationen, Neuheiten, Trends und Flüchtigkeiten jagen sich in einer Stadt, die auf den ersten Blick völlig relaxed und cool scheint. Dabei gibt es ganz viel zu entdecken.
Ich wache mit der Sonne auf, deren Licht alles verzaubert. Dieses magische Licht, das seinerzeit die Filmindustrie anlockte. Im Garten zirpen die Grillen, ein paar Vögel zwitschern. Das Rauschen des Sunset Boulevards dringt leise zu mir hoch. Die Alarmanlage eines Autos geht los - weeeuuuuuwwww, weeeuuuuuwwww, weeeuuuuuwwww. Mediterrane Natur und Urbanität sind hier ineinander verwoben, als wäre dies das Selbstverständlichste der Welt. Los Angeles stillt die Sehnsucht nach Landleben genauso wie die nach pulsierenden Stadtvibes. Es ist noch kühl, wie meistens am frühen Morgen in L.A., weil die Temperaturen nach Sonnenuntergang spürbar sinken. Es wird noch ein, zwei Stunden dauern, bis es richtig warm wird. Ich trinke einen frisch gepressten Gemüsesaft – hier lebt man gesund – blicke hinunter vom Hügel der Santa Monica Mountains auf das Häusermeer, das am Abend zuvor als Gewirr aus tausenden verhedderten Lichterketten funkelte. Unten der Sunset Strip, dort wo Stars des Rock’n’Roll im Sunset Marquis, dem Whisky A-Go-Go, dem Viper Room und der Rainbow Bar bis tief in die Nacht jammen.
Ich bin also hier oberhalb des Sunset Boulevards, mittendrin in der Legende Los Angeles. Und die ist schnell erzählt: Hollywood, Stars, Glamour und High Life. Dazu etwas Rock’n’Roll. Und Sonne, Strand. Surfin’ California. Und wie ein bedeutsames Zeichen, das mir sagen will, dass L.A. nicht nur ein einziges Cliché ist, giesst es einige Tage später wie aus Kübeln. Der Verkehr ist halb lahmgelegt. Die Radio- und TV-Stationen berichten nonstop über das aussergewöhnliche Naturereignis, mit dem alle etwas überfordert scheinen. So, wie hier nicht ewig die Sonne scheint, verbringe ich auch nicht – entgegen gängiger Ansichten Aussenstehender – jeden Tag am Strand. Oder jede Nacht an einer Hollywood-Party. Alltagsstress, verstopfte, holprige Strassen, Feuersbrunsten, neblige June-Gloom-Tage, Regen und Wolken und Gesichter ohne Botox und Fillers – auch das ist L.A. Und während Hollywood die Welt mit glanzvollem Scheinwerferlicht beeindruckt – alles nur Show, Baby! – gibt es eine ganz reale Welt ausserhalb der Traumfabrik. L.A. ist auch ein Mekka für Designer, Künstler, Lebenskünstler, Esoteriker aller Couleur. Ein Magnet für Träumer, Hochstapler aber auch für kreative Menschen, die sich hier neu erfinden wollen. Alles bleibt in Bewegung. Morgen ist alles anders.
Diegos Ohren flattern im Fahrtwind aus dem Autofenster. Der Chocolate Labrador kommt mit auf den Hike durch den Griffith Park, der mit seinen siebzehn Quadratkilometern einer der grössten Parks Amerikas ist. Wir starten am Farn Dell Drive. Aus den Autos steigen aufgeregt kläffende Hunde, die ihre Herrchen und Frauchen an der Leine hinaus ins Freie zerren. Auf dem Weg zum Griffith Observatory, der Sternwarte, die mit ihrer grossen Kuppel zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden ist, begegne ich zufälligerweise A.L., einem meiner Nachbarn. «Das ist Walter», stellt er seinen neuen, arg in die Länge gezogenen Hush Puppy, vor. A.L. ist Musikproduzent. Einer der ganz Grossen. Seinen ganzen Namen verrate ich hier nicht. So etwas tut man nicht. Genauso wenig, wie man Insider-Wissen aus dem Show-Biz an die Öffentlichkeit trägt.
Neben mir staken rhythmisch und diszipliniert Nachwuchsschauspielerinnen und Models, so dünn wie Zweige, über den staubigen Naturweg. Ein paar stehen in der trockenen Büschelvegetation wie Störche mit hochgehaltenen Armen in Yoga-Position auf einem Bein. Wohl auf der Suche nach meditativer Spiritualität. Diego ist das zu langweilig. Er zieht mich Richtung altem Zoo von 1912, mit den surreal wirkenden, vergammelten Käfigen und Anlagen. So, als hätte hier ein Künstler eine gut konzipierte Installation hingestellt.
Roy Choi sehe ich nicht. Aber ich kann ihn riechen. In meinem Kopf. Ich denke an seine Korean Tacos, diese süchtigmachende Kombination aus Korean BBQ und Mexican Taco, die er in seinen rollenden Restaurants, den Kogi Trucks, anbietet. Viel Umami, ungewöhnliche Geschmackskombinationen zwischen süss, bitter, scharf und sauer. Koreanisches Kimchi, ein fermentiertes Kraut. Mexikanische Chilis. Roy Choi, aufgewachsen mit koreanischen Eltern und neben Einwanderern aus Mexiko, gehört zur neuen prägenden Generation in L.A. Die Söhne und Töchter von Immigranten haben keine parallel-kulturelle Identität mehr, sondern eine, die die unterschiedlichsten Kulturen zu etwas ganz Neuem verbindet. In L.A. werden über 200 verschiedene Sprachen gesprochen, unzählige Religionen gelebt.
Ich fahre hinunter ins Flachland nach Koreatown, dort wo sich Roy Chois neues Restaurant «Eat Pot» befindet. Hier simmern die verschiedenen Kulturen in feuerheissen Töpfen. Koreatown, oder K-Town, ist mit den Korea-Amerikanern wie Roy Choi oder dem Rapper Dumbfoundhead auf dem besten Weg, zum neuen Hipster-Stadtteil von L.A. zu werden. Wohl weil hier das Ineinanderverweben der Kulturen L.A. genau auf den Punkt bringt. Aber auch weil Traditionen wie die Koreanische Badekultur Angelenos von überall her anzieht. Im Korean Spa tauche ich solange in verschiedene heisse, mit Kräutern infusierte Wasserbecken ein, bis meine Haut aufgeweicht ist. Diese wird dann von einer nicht mehr ganz taufrischen Koreanerin in schwarzem BH und Slip mittels eines rauen Tuches, das diese mit unzimperlichen Friktionen über meinen Körper fetzt, auf babyzart abgerubbelt.
Wie ein überdeutliches Symbol zieht der achtspurige 405 Freeway eine nord-südliche Trennlinie durch Los Angeles. Im Osten, in Silver Lake, Echo Park, Eagle Rock, Downtown, leben die Kreativen, Künstler, Art Direktoren, Designer, die Urban Farmers, kurz die Hipster-Szene, neben Latino-Einwanderern und Asiaten. An der Sunset Junction in Silver Lake, an der Echo Park Avenue oder am Eagle Rock Boulevard findet man coole Independent Stores, Szene-Restaurants, und Hipster-Coffee Shops mit eigenen Röstereien. Heute fahre ich aber Richtung Westen, überquere den 405 Freeway. Es soll Angelenos geben, die diese Beton-Grenze noch nie übertreten haben. Dort, in Brentwood, Santa Monica, Venice, Pacific Palisades und Malibu, regiert Glamour, Ruhm und gesundheitsbewusste Body Culture. Schon die Luft riecht anders, leicht metallisch und frisch von der leichten Meeresbrise. In der nostalgisch gestylten Shoppingmall, dem Brentwood Country Mart, einem Holzbau im Stil der 1930er, mache ich Halt und flaniere durch die verschiedenen Shops und Cafés: California Casual Chic wird hier aufs Perfekte inszeniert. Natürlich komme ich L.A.-mässig etwas zu spät zum Treffen mit meinen Architekten-Freunden, die mich durch das 1949 erbaute Haus des legendären Designerpaars Charles und Ray Eames in den Pacific Palisades führen wollen, das sie gerade restaurieren. Das Eames-Haus ist Teil des Case-Study-House-Projekts, das eine ganze Reihe an Mid-Century-Modern-Häusern – wie das berühmte Stahl-Haus in den Hollywood Hills – hervorgebracht und Architekturgeschichte geschrieben hat. «Der Verkehr war die Hölle», ist meine Entschuldigung. Die funktioniert immer.
Abends geht die Sonne früh unter. Es ist zwanzig nach Fünf. Der blaue Himmel verfärbt sich orange, gelb und rot. Dazwischen ein paar dünne, graue Schlieren. Am schönsten ist der Sonnenuntergang am Strand, wo man ein paar Paddler, Surfer und sonstige Bodyworker nur noch als dunkle Silhouetten wahrnimmt. Ich sitze auf der Terrasse in Venice bei meiner Freundin Lili, überschaue das Spektakel und nippe an einem Glas Rosé. Lili macht Schmuck und Handtaschen. Früher war sie in der Werbung und schrieb Bücher. Eine typisch kalifornische Selbsterneuerungsgeschichte. Eigentlich wären wir zum Essen zuhause geblieben. In Los Angeles findet das gesellschaftliche Leben viel ausgeprägter im Privaten statt als anderswo. Dann gehen wir doch hinüber an den Abbot Kinney Boulevard mit seinen bunten Shops, hochfrequentierten Bars und Restaurant, essen im Gjelina, einem Industrial-Chic-Ort mit dieser so göttlich schmeckenden rustikalen, kalifornischen Marktküche: Die Hochburg des Fastfood hat sich in den letzten Jahren zu einer der spannendsten Foodcitys Amerikas entwickelt.
Landet man Wann man mit den Flugzeug in LAX, dem internationalen Flughafen von Los Angeles, sieht man unter sich einen nimmer endenden Flickenteppich. Dutzende von Orten, die – angetrieben von massiver Bauspekulation – zu einem Einzigen zusammengewuchert sind. Kastenförmige Häuschen reihen sich aneinander, eins nach dem anderen. Verstopfte Strassen, Verkehrschaos. Schön ist das alles auf den ersten Blick nicht unbedingt. Doch in einem entspricht L.A. seinem Cliché ganz: Es ist wie eine riesige Leinwand, auf der jeder seine eigenen Träume projizieren kann. Um diese zu entdecken, muss man ganz genau hinschauen. So gucke ich von meinem Garten über die Palmen hinüber auf das «Château Marmont», diese legendäre Hollywood-Herberge, in der von James Dean über Elizabeth Taylor bis zu Sofia Coppola schon jedes Mitglied der Hollywood-Royalty abgestiegen ist. Dort sind die Träume von Old und New Hollywood so präsent wie nirgends sonst.
Fotos: Reto Caduff