«Milano da bere» wird die Wirtschaftsmetropole Italiens auch genannt. Die Stadt im Norden ist Hochburg der Aperitivo-Kultur. Mit einem Glas Campari kommt sogar der geschäftstüchtige Mailänder zur Ruhe.
«Laura non c'è» — Laura ist nicht mehr da, singt ein Strassenmusiker. Ich erinnere mich: Es ist ein Lied des italienischen Popsängers Nek aus den 1990er-Jahren. Damals war ich zum ersten Mal in Milano. Ich und meine Freundin fütterten auf der Piazza del Duomo Tauben, schossen Fotos. Das Lied war ein Hit. Zwanzig Jahre später bevölkern Tauben weiterhin die Piazza, Touristen posieren für ihre Selfies. Noch immer wird das Liebeslied über Laura gesungen, noch immer sind Orlando Chiari und seine Frau Teresa im Dienst.
«Früher waren hier Kutschen zugegen und es herrschte Linksverkehr», erzählt Orlando Chiari (82), Inhaber der Bar Camparino. In der oberen Etage des zweistöckigen Lokals hängen schwarzweiss-Fotos, die Mailand im 17. Jahrhundert zeigen. Chiari, der mit seiner Frau Teresa 1999 das Camparino am Eingang der Galleria Vittorio Emanuele II übernommen hat, erzählt mit leuchtenden Augen, dass schon Giuseppe Verdi hier seinen Magenbitter zu trinken pflegte. «Dieses Jahr feiern wir das 100-jährige Bestehen», sagt er stolz. Die Mosaikkunst von Angelo D’ Andrea, welche an Gustav Klimts Jugendstil erinnert, und die Einrichtung mit Spiegel und dunklem Holz sei seit Eröffnung unverändert, versichert Chiari.
Davide Campari gründete 1867 die Bar Campari, 1915 kam das Camparino hinzu, welches mit einer neuartigen Stehbar ausgestattet war. «Nach einer Aufführung im Theater La Scala oder nach der Kirchenmesse gönnte man sich einen Magenbitter, eher seltener einen Kaffee», erzählt Chiari. Zur Jahrhundertwende trafen sich im Campari vor allem Künstler und Musiker, später das gewöhnliche Mailänder Volk. Dies auch wegen der guten Lage: Das Camparino grenzt an das Scala, an den Palazzo Marino, an den Dom und die Piazza dei Mercanti – das sogenannte Mailänder Viereck.
«Milano da bere» — ein Ausdruck, der das gute Leben der 1980er-Jahre zusammenfasst. Es waren Sternstunden der Mailänder Mode, der Kunst und der Wirtschaft. «Mailänder sind geschäftstüchtig», sagt Chiari. Obwohl der Aperitivo in Turin geboren wurde, sei er in Mailand gross geworden. Einer Stadt, die immer offen gewesen sei und sich weiterentwickelt hätte. Auch was den Aperitif betrifft. Zur Tatsache, dass seit einigen Jahren an jeder Ecke gross Werbung gemacht wird für die Happy Hour, findet der Geschäftsfūhrer klare Worte: «Wer mit dem Aperitivo ganze Mahlzeiten wie Pasta isst, der kann den Geschmack des Getränks nicht geniessen.» Darum werden in der Stehbar, bei der die gut gekleideten Milanesi ihren Campari geniessen, nur Oliven, Peperoni Lombardi, Zwiebeln, Tarallucci und Chips angeboten.
Nach dem Mauerfall stattete der einstige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow zusammen mit seiner Frau Raissa Mailand einen Besuch ab. Im Camparino machte er Halt und trank einen Cappuccino. Es ist die einzige Begegnung mit einer schillernden Persönlichkeit, die Orlando Chiari detailliert erzählen möchte. Begeistert von der Gastfreundschaft sei der Politiker gewesen — und noch viel begeisterter seine Frau, die am liebsten das mit einem Herzen verzierte Genussgetränk mit nach Hause genommen hätte. «Das Herz der Milanesi», nannte Gorbatschow den Cappuccino danach. Vor ein paar Jahren war er wieder in Mailand; seine Frau war schon verstorben. Den Cappuccino mit Herz liess er sich nicht entgehen. Chiari scheint von der Geschichte sehr gerührt – vielleicht auch deshalb, weil er damals noch nicht Inhaber war und mit Vorfreude seinen Vorgänger bei der täglichen Arbeit begleitete.
Chiari begleitet uns nach unten, wo an der Bar Geschäftsleute bei einem «Caffè» eine Pause einlegen. Wir trinken einen Campari mit Selterswasser, wie es schon Giuseppe Verdi tat, bevor wir in Richtung Bahnhof Garibaldi spazieren. Im Stadtteil Brera reiht sich eine Boutique an die andere, in der Fussgängerzone können die Schaufenster ungestört begutachtet werden. Je mehr wir uns dem Bahnhof Garibaldi nähern, desto mehr stechen uns Hochhäuser wie Stefano Boeris «Bosco Verticale» oder die 231 meterhohe «Torre Unicredit» ins Auge. Der Corso Como verwandelt sich in eine moderne Passage, die in die futuristischen Piazza Gae Aulenti mündet. Wir sind im neuen Stadtviertel Porta Nuova angekommen.
Ich denke an Orlando Chiaris Worte, dass Mailand immer offen ist für Neues und die Mailänder geschäftstüchtige Leute sind. Die Zeit war immer knappes Gut. Kein Wunder, ist die Stehbar, wo man schnell einen Kaffee trinkt, hier entstanden. Sie ist typisch für Milano. Wie das Camparino am Eingang der Galleria.
Fotos: Sven Driesen / Bar Camparino