Weiter weg von der Schweiz kann man auf dieser Welt fast nicht mehr reisen – Neuseeland. Meinen Fuss ans andere Ende der Welt setze ich in Christchurch, der grössten Stadt der Südinsel, das will aber noch nicht viel heissen...
Nun begibt es sich, dass Neuseeland auf dem pazifischen Feuergürtel liegt, also zu den Gebieten mit hoher tektonischer Aktivität gehört. Das äussert sich durch starken Vulkanismus, häufige auftretende Geothermale Gebiete und hohe Erdbebenwahrscheinlichkeit. Dass Christchurch im Februar 2011 einem extrem starken Erdbeben ausgesetzt war und dabei grosse Teile der Stadt erhebliche Schäden erlitten hatte, war mir vor der Ankunft sehr wohl bewusst. Mit dem, was einen in Downtown Christchurch erwartet, habe ich aber nicht gerechnet.
Ich schleiche durch die Strassen und fühle mich wie in einer Geisterstadt: verlassene Häuser, die dem Verfall überlassen wurden, grosse Brachflächen, wo einstmals Häuser gestanden haben, gesperrte Strassenzüge, die Kathedrale der Stadt nur noch eine Ruine. Aufräumarbeiten oder Wiederaufbau sieht man fast nirgends und ich frage mich, was hier los ist. Das Erdbeben war sicherlich ein schwerer Schlag für unzählige Menschen, die Hab und Gut verloren haben, aber nach so langer Zeit wäre doch zu erwarten, dass der Wiederaufbau in vollem Gange, wenn nicht gar vielerorts bereits abgeschlossen sein müsste. Es gibt aber kein öffentliches Leben im Stadtzentrum. Restaurants finden sich keine Handvoll, das Casino ist geschlossen, die Bibliothek ebenso und Menschen gehen nur spärlich durch die Strassen. Erst als ich das Zentrum verlasse, stosse ich auf Leben: der botanische Garten beim College wirkt geradezu übertrieben friedvoll und gepflegt, auf einem Bach stakt ein Gondoliere eine Touristenfamilie durch den Park. In den Industrie- und Gewerbegebieten verkehren Autos und Lastwagen in erwähnenswerter Zahl und im Supermarkt herrscht fast so reges Treiben, als wäre alles ganz normal im geschundenen Christchurch.
Nach zwei Tagen bin ich aber heilfroh, die Stadt hinter mir lassen zu können und für die nächsten fünf Wochen einen Campervan in Empfang zu nehmen. Denn nach Neuseeland komme ich wegen der Natur, den Landschaften und dem Gefühl von Freiheit. Tun und lassen können was man will, anhalten oder weiter fahren wie es einem gerade gefällt, einsam campieren und jeden Tag seine Pläne ändern, wenn einem danach ist.
Der Berthi, das ist der Campervan, ist mein Zuhause für die nächsten fünf Wochen. Drei Wochen auf der Süd- und drei auf der Nordinsel habe ich geplant, weiter eigentlich noch nichts. Natürlich habe ich einige Ideen von Orten, die ich besuchen möchte, aber ich will mir auch möglichst viel offen halten, um spontan zu sein, bleiben zu können, wo es mir gefällt, die Route zu ändern, wenn ich von etwas Schönem, Spannendem höre, eine Abkürzung zu nehmen wenn ich schneller wo anders sein will.
Zuerst führt mich der Weg nach Süden, ich will den höchsten Berg Neuseelands, den Mount Cook, oder wie in die Maori nennen, Aoraki, sehen. Es bleibt beim Wunsch, denn das Wetter ist mir nicht sehr wohlgesonnen und so sehe statt des Berges bloss eine Nebelwand.
Die nächsten Ziele sind die Seen Tekapo und Wanaka, beide recht gross, wild, dünn besiedelt, wunderschön zum Wandern — oder für ein (äusserst) erfrischendes Bad. Die Canterbury Plains und Central Otago, das südliche Landesinnere der Insel zeigen sich dann von ihrer Sonnenseite. Weit auseinander und rar gestreut die Siedlungen, weit die Ebenen, eng und kurvenreich die Täler, ungezähmt die unzähligen Flüsse und Bäche. Immer wieder muss ich auf den Fahrten spontane Stopps und Pausen einlegen, um Fotos der atemberaubenden Landschaft zu machen und Tee oder Kaffee vor einmaligen Kulissen zu geniessen. Dabei verdient sich der Berthi auch seinen Namen «der Kolibri» — auf den kurvigen und steilen Routen Neuseelands vibriert der alte Knabe in einer Frequenz, die nicht mehr sichtbar, sehr wohl aber spürbar, ist, kommt dabei nicht vom Fleck und säuft scheinbar täglich ein Vielfaches seines Körpergewichts. Überhaupt haben es die Strassen hier in sich. Selbst als geübter Schweizer Passstrassenfahrer wünscht man sich hie und da, die Neuseeländer hätten doch mal einen Tunnel gegraben, anstatt einfach etwas Asphalt in die Gegend zu schütten.
Das südliche Ende meiner Fahrt ist das Städtchen Te Anau, von wo die Route zum berühmten Milford Sound startet. Diese Route gilt als eine der schönsten des Landes und das sollte man sich wirklich nicht entgehen lassen. Nach zwei Tagen lautet mein Fazit: der Milford Sound selbst ist mittelspektakulär, wobei dieses Urteil wohl nicht unwesentlich vom Wetter geprägt, respektive getrübt, ist. Die Landschaft entlang der Strasse dorthin ist dafür allein die Fahrt wert: Gewaltige Regenwälder, undurchdringlich grün; schroffe Bergflanken, schneebedeckt; spiegelglatte Seen, tiefblau; und stiebende Wasserfälle, ungebändigt und schleierzart umweht. Und: ich passiere den wohl einzigen Tunnel ganz Neuseelands, wobei, dieses Loch verdient den Namen Tunnel kaum. In der Schweiz würde in jedem Pfadilager ein sicherer und besser beleuchteter Stollen gegraben.
Man kommt einfach nicht drum rum — Neuseeland ist Mittelerde und Mittelerde ist Neuseeland. Als Lord-of-the-Rings-Sympathisant, stand für mich natürlich ausser Frage, dass ich mir einige der Originalschauplätze anschauen wollte. Nun denkt der einigermassen informierte Laie dabei ziemlich sicher an die Erdlöcher, in denen diese kleinen gnomenhaften, haarfüssigen Winzlinge leben. Hobbiton, der Ort, wo Bilbo und Frodo Baggins lebten, ist der am meisten ausgeschlachtete Drehort, den man in Neuseeland besuchen kann. Zahlreiche Tourenveranstalter haben sich aber auch darauf spezialisiert, andere Drehorte in Tagestouren abzuklappern.
Insbesondere in der Region zwischen Te Anau und Queenstown auf der Südinsel wurden viele Szenen vor den atemberaubenden neuseeländischen Naturkulissen gedreht. Ich verzichte aber auf kommerzielle Touren und halte mich an die Landkarte meines Reiseführers, in dem die Schauplätze ebenfalls vermerkt sind.
Leider muss ich auf Edoras verzichten: der Hügel, auf dem die Hauptstadt Rohans mit der goldenen Halle Meduseld stand, liegt zu weit abseits meiner Route. Doch ansonsten bekomme ich viel von Rohan und angrenzenden Regionen zu sehen. Auf dem Weg von Norden nach Queenstown durchquere ich in die Plains of Rohan und die Pelennor Fields, wo die grosse Schlacht um Minas Tirith stattfand. Entlang des Lake Wakatipu, von Queenstown aus nordwestlich, erblicke ich in der Ferne Isengard, und bewege mich quasi entlang des Anduin River Richtung Osgiliath. Bei Te Anau wandere ich durch den dichten, uralten Fangorn Forest, quere die Dead Marshes und halte mich erneut an die Ufer des Anduin River. Dabei führen mich die Strassen Otagos stets entlang der Misty Mountains und ich frage mich, welcher wohl der Caradhras sei und wo der Eingang zu den Minen von Moria verborgen sein könnte.
Auf der Nordinsel zieht es mich zügig in nördlicher Richtung, rund um die Hauptstadt Wellington lasse ich auch einige Schauplätze aus — die Gärten von Isengard, Lothlórien und die Wälder des Shire, wo Frodo und seine Freunde sich vor den Nâzgul verstecken. Ich will nach Mordor zum Mount Doom. Dorthin komme ich auch, doch weder von Mordor noch vom Feuerberg bekomme ich viel zu sehen — statt Ödnis, Rauch und Feuer erwarten mich bloss Regen und Nebel. Nicht ganz was ich mir vorgestellt habe.
« Aber da ich keiner der Istari bin, habe ich keine Gewalt über das Wetter, mir bleibt leider nichts anderes übrig als unverrichteter Dinge von Dannen zu ziehen. »
Hobbiton, das Zugpferd der Lord-of-the-Rings-Marketingmaschinerie lasse ich aus. Man kann die paar Löcher ausschliesslich in geführten Touren besuchen — die selbst für neuseeländische Verhältnisse sehr teuer sind — und eine solche will ich mir nicht antun. Dafür fühle ich mich dann in Northland, in den Kauriwäldern, noch einmal nach Middle-earth versetzt. Ich kann fast sehen, wie Frodo, Sam, Merry und Pippin sich im Old Forest vor Bäumen und Pflanzen verstecken und die mächtigen Stämme der Kauri erinnern mich an Old Man Willow, jenen Baum im Old Forest, der Merry und Pippin in seinem Stamm einschliesst.
Wer sich bei diesen letzten Beschreibungen fragt, worum es genau geht, dem sei empfohlen, statt erneut die Filme zu schauen, die Bücher zu lesen.
Neuseeland ist Mittelerde und Mittelerde ist Neuseeland — daran werde ich noch ein letztes mal erinnert, als ich das Land so gut wie verlassen habe, im Flug mit Air New Zealand: Für einmal schaue ich mir da nämlich das Safety-on-board-Video tatsächlich an. Wird es doch von Gandalf, Frodo, Aragorn und Galadriel höchstpersönlich präsentiert — und auch der Oberhobbit Peter Jackson hat seinen kleinen, haarigen Auftritt.
Fotos: Getty images, Oliver Fischer